Biodiversitätsschutz fängt vor der Haustür an: Stoppt den Raubbau und Flächenfraß in Selm!

Foto: Andreas Depping
30. November 2024

Anfang November endete die Biodiversitätskonferenz der Vereinten Nationen in Cali, Kolumbien, mit großer Enttäuschung für den Schutz unserer Artenvielfalt. Ein geplanter globaler Biodiversitätsfonds, der ärmeren Ländern im Globalen Süden bei Naturschutzmaßnahmen helfen sollte, wurde von der EU und anderen Industrieländern blockiert. Dies enttäuschte sowohl die betroffenen Nationen als auch jene, die an eine gemeinsame Verantwortung für den Planeten glauben.

Nicht nur globale Ökosysteme wie der Amazonas sind bedroht, sondern auch lokale Artenvielfalt. Der westeuropäische Igel wurde kürzlich von der Weltnaturschutzunion als „potenziell gefährdet“ eingestuft“. Obwohl er in Deutschland durch das Bundesnaturschutzgesetz geschützt ist, fehlen ihm in unserer Kulturlandschaft zunehmend Rückzugsorte, was durch viele überfahrene Tiere auf den Straßen sichtbar wird. Auch andere Arten wie Feldhamster, Ziesel, Wildkaninchen, Feuersalamander, Kiebitze, Feldlerchen, Rebhühner und Feldsperlinge sind auf dem Rückzug.

Grund für das Verschwinden der Arten: Der immense Flächenfraß durch Industrie, Verkehr, Besiedlung und Landwirtschaft. In Nordrhein Westfalen gehen im langjährigen Mittel täglich rund 10 Hektar wertvolle Natur- und Freifläche verloren.(Link: Flächenverbrauch | umwelt.nrw.de) Ziel der Bundesregierung dagegen ist, dass bis zum Jahr 2050 der Flächenverbrauch durch  Flächenkreislaufwirtschaft auf netto Null begrenzt wird. Die Landesregierung NRW hat die „Allianz für die Fläche“ gegründet, um den Flächenverbrauch zu reduzieren. Die Allianz richtet sich mit ihren Aktivitäten besonders an die Kommunen, denn sie haben die Planungshoheit über die Nutzung der Flächen.

Und was geschieht in punkto Fläschenverbrauch in unserer Kommune? Nicht nur bei uns in Selm, auch ganz aktuell in Nachbarkommunen wie beispielsweise Nordkirchen, werden durch sogenannte „Arrondierungen“ landwirtschaftlich genutzte und sogar geschützte Landschaftsteile durch Verbrauch und Versiegelung dauerhaft zerstört. Für den Bau von Industriegebieten in extremen Dimensionen mit Dauerlichtverschmutzung und von Wohngebieten mit Einfamilienhäusern müssen solche Flächen weichen. In den letzten Jahren wurden und werden auch aktuell noch unzählige neue Bau- und Industriegebiete in die peripheren Landschaften gepflanzt, mit der Option sich auch noch weiter ausbreiten zu können.

Dies ist eine Strategie zumeist verschuldeter Stadtverwaltungen, zu denen auch Selm gehört. Die Kommunalpolitik verspricht sich dadurch mehr Steuereinnahmen und wirbt um Investoren, um aus der durch Fehlentscheidungen und jahrzehntelanger Misswirtschaft entstandenen Schuldenkrise herauszukommen. Dabei ist vielen Finanzexperten schon lange klar: Die Kommunen können allein durch weitere Steuereinnahmen die Altschuldenproblematik gar nicht lösen. (Link: Reform des kommunalen Haushaltsrechts am Ziel vorbei | Bund der Steuerzahler e.V.)  Auch in Selm sehen wir das Resultat: Trotz all der neuen Industrie- und Wohngebiete sind die Schulden der Kommune eher gewachsen als getilgt worden.

Aber der Verlust von Feuchtwiesen oder Wäldern ist nicht so dramatisch – könnte man meinen – da der Gesetzgeber ja Ausgleichsmaßnahmen vorschreibt. Laut §14 und §15 des Bundesnaturschutzgesetzes sowie im Baugesetzbuch müssen bei der Zerstörung unbebauter Flächen durch Ausgleichsflächen an anderer Stelle kompensiert werden. In NRW spielt das Ökopunktekonto eine zentrale Rolle: Das System bewertet verschiedene Lebensräume unterschiedlich und verlangt, dass verlorene Ökopunkte durch gleichwertige Maßnahmen ersetzt werden. Die Idee dahinter ist, dass sich Natur und Landschaft in Summe nicht verschlechtern sollen.

Was bedeutet das mit Blick auf die neu entstandenen und weiterhin neu entstehenden Gewerbe- und Wohngebiete ein Selm? In jedem Bebauungsplan (zum Beispiel in diesem zur „Östlichen Erweiterung des Industriegebietes Werner Straße“) sind für die Schutzgüter Boden, Wasser, Biotoptypen/Vegetation, Fauna sowie Orts- und Landschaftsbild Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen festzulegen, sobald sich durch den Plan ein Biotopwertdefizit ergibt, also eine Verschlechterung gegenüber dem vorherigen Zustand der Fläche. Ein Industrie– oder Wohngebiet stellt eine solche Verschlechterung dar, wenn vorher dort landwirtschaftlich genutzte Fläche war. Ein größeres Defizit entsteht natürlich, wenn dort vorher ein Wald oder eine Feuchtwiese war.

Die Stadt Selm ist berechtigt, die Kompensation für solche Vorhaben auch außerhalb des Stadtgebietes im gesamten Kreis Unna vorzunehmen, falls dies auf dem eigenen Stadtgebiet nicht möglich ist. Wo welche Ausgleichsfläche für welches Bauvorhaben vorgesehen sind, kann man sich auf den Geodaten-Service-Seiten des Kreises anschauen (Link: GeoService Kreis Unna). Hier bekommt man schnell einen Eindruck davon, wie wenig Raum es in Selm selbst gibt, um für all die entstehenden Industrie- und Wohngebiete Ausgleichsflächen zu finden. Die dunkelgrün gefärbten Flecken auf der Karte, welche die Ausgleichsflächen anzeigen, sind klein und weit über Selm verstreut, konnten also fast nie in unmittelbarer Nähe zu der baulichen Maßnahme gefunden werden. Die Stadt Selm wird also mit höchster Wahrscheinlichkeit schon einmal nicht von einer Kompensation profitieren.

Dann kann doch wenigstens in Summe die Natur (im Kreis Unna) profitieren? Auch das ist fraglich. Die Ausgleichsflächenregelung sieht sich unter Experten erheblicher Kritik gegenüber. Hier einige zentrale Punkte:

Es fehlt an einer gesetzlichen Kontrollpflicht. Zuständig wären die unteren Behörden, doch oft mangelt es an Personal für diese zusätzlichen Aufgaben. Zudem liegt hier das strukturelle Problem vor, dass die Institution, die Auftraggeber ist, gleichzeitig die Kontrollfunktion ausüben muss.

Zudem erlischt die Verpflichtung zum Erhalt einer Ausgleichsfläche nach 25 bis 30 Jahren, während die bebauten Flächen deutlich länger bestehen bleiben.

Und – der Pflegeaufwand für Ausgleichsflächen wird häufig unterschätzt. Wer eine insektenfreundliche Blühwiese angelegt hat, weiß, dass es nicht mit der Aussaat getan ist. Regelmäßiges Mähen, das Entfernen unerwünschter Pflanzen und gegebenenfalls Nachsäen sind notwendig. Auch auf Streuobstwiesen müssen die Bäume regelmäßig geschnitten werden. In klimafreundlich umgebauten Wäldern müssen Jungpflanzen kontrolliert und vor Wildverbiss geschützt werden.

Wenn wir die Biodiversität vor unserer Haustür wirklich schützen wollen, kann das grüne Fazit nur lauten: Stoppt den Flächenfraß! Der Bauboom führt nur zu einem florierenden Handel mit Ausgleichsflächen, bei dem Ökopunkte als Währung dienen. Häufig stammen diese Punkte von weit her, da es in städtischen Gebieten, wo der Bau am intensivsten ist, an eigenen Ausgleichsflächen mangelt. Zudem braucht es strengere Kontrollen und einen Nachweis über die gelungene Umsetzung. Da oft nur buchhalterisch nach Punktwerten abgerechnet wird, ohne zu prüfen, ob die Flächen ökologisch sinnvoll integriert sind und ihre beabsichtigte Funktion tatsächlich erfüllen können, droht das Ganze zu einem Verlustgeschäft für die Natur zu werden. Und damit letztlich für uns alle.

Erich Neumann und Bianka Ansperger

Bild: Andreas Depping